Kreative Intelligenz

„Kreative Intelligenz – Was wir mit Mozart, Freud, Woolf und Gandhi gemeinsam haben“ lautet der Titel eines Buches von Howard Gardner. Ich las es in der Hoffnung auf Anregungen, wie ich selbst mehr von den Fähigkeiten solcher Persönlichkeiten erlangen könnte. Leider wurde ich von diesem Buch in dieser Hinsicht ein wenig enttäuscht. Gardner beschreibt die Lebenswege dieser Personen sehr ausgiebig, um so herauszufinden, wie die Umgebung und das eigene Verhalten zu solchen Ausnahmetalenten führen könnten. Er versucht herauszuarbeiten, was kreative Intelligenz ausmacht. Für meinen Geschmack liest es sich recht trocken. Gardner geht das Thema wissenschaftlich an. Mir persönlich mangelt es dabei an Kurzweiligkeit und Unterhaltung.

Gardner stellt die Frage, was es braucht, um Spuren zu hinterlassen. Welche Persönlichkeitsmerkmale sind es, die einen Menschen befähigen, großartiges zu vollbringen. Für mich ist dies ein sehr spannendes und faszinierendes Thema. Trotzdem habe ich mich durch viele Seiten dieses Buches oft durchgequält. Es waren aus meiner Sicht zu viele unnötige Vermutungen, Erklärungen und Analysen über die einzelnen Personen beschrieben, die der wesentlichen Frage, was kreative Intelligenz ausmacht und wie sie entsteht, nicht dienlich sind. Dies mag aber jeder anders sehen. Erst im letzten Kapitel erfährt der Leser, was er selbst von diesen Personen lernen kann, und das ist nicht viel. Für mich war das Ergebnis seiner Analyse sehr unbefriedigend. Ich hätte mir bei diesem verführerischen Titel gewünscht, genauer zu erfahren, was ich selbst konkret tun kann. Trotzdem ist das Buch insgesamt durchaus interessant zu lesen. Ich möchte das Wesentliche, was ich persönlich diesem Buch entnommen habe, zusammenfassen. Danach gebe ich meine eigenen Ansichten zu diesen Themen wieder.

Zusammenfassung

Gardner beschäftigt sich mit herausragenden Persönlichkeiten, um herauszufinden, was Außergewöhnlichkeit ausmacht. Es geht ihm darum, gemeinsame Merkmale für außergewöhnliche Intelligenz auf den verschiedensten Gebieten zu erkennen.

Gardner unterscheidet vier verschiedene Arten kreativer Intelligenz: Der Meister, der Neuerer, der Selbstbeobachter und der Beeinflusser. Die Personen Mozart, Freud, Woolf und Gandhi stehen in dieser Reihenfolge stellvertretend für diese Intelligenz-Arten.

Gardner stellt berechtigt die Frage, ob es überhaupt Unterschiede im Leben eines Otto-Normalverbrauchers und einer herausragenden Persönlichkeit gibt und ob die Leben herausragender Persönlichkeiten möglicherweise so sehr voneinander unterschiedlich sind, dass keine gemeinsamen Merkmale feststellbar sind.

Außergewöhnliche Menschen mussten sich zur Außergewöhnlichkeit entwickeln. Es wurde ihnen nicht in die Wiege gelegt und daher kann man in der eingehenden Betrachtung der Entwicklungswege herausragender Persönlichkeiten Lehren für sich selbst ziehen.

Die Außergewöhnlichkeit entsteht aber nicht allein im Gehirn der jeweiligen Person, sondern ist nach Gardner ein Zusammenspiel dreier Elemente: das Individuum selbst, der besonderen Domäne (das Gebiet bzw. die Disziplin) und das Umfeld, das Urteile über die Qualität der Arbeit eines Menschen fällt. Außergewöhnliche Kreativität ist somit immer ein passendes Zusammenspiel aller drei Faktoren. Z.B. wurden die Arbeit von Gregor Mendel und Vincent Van Gogh leider erst posthum anerkannt.

Etwas, was alle Menschen gemein haben sind laut Gardner die Beziehungen, die sie zu den Domänen, zu anderen Personen und zu sich selbst haben. Außergewöhnliche Menschen legen aber ein sehr starkes Gewicht auf eine bestimmte Form der Beziehung und vernachlässigen oft die anderen. Und jede der vier genannten Personen steht beispielhaft für eine der vier Möglichkeiten:

  • Der Meister gelangt zu Exzellenz auf einem bekannten Gebiet. Beispiele sind Mozart, George Eliot, Rembrandt
  • Der Neuerer schafft eine neue Domäne. Beispiele sind Freud, Jackson Pollock, Charles Darwin
  • Der Selbstbeobachter erforscht die Beziehung zu sich selbst. Beispiele sind Virginia Woolf, James Joyce,
  • Der Beeinflusser erlangt Exzellenz in seinen Beziehungen zu anderen Personen. Beispiele sind Gandhi, Karl Marx

Die Übergänge sind fließend. Ein Neuerer kommt z.B. nicht ohne Meisterschaft zum Ziel. Und Freud hat sich sicher auch ausreichend selbst beobachtet. Jeder von uns hat das Potenzial jede dieser vier Formen kreativer Intelligenz zu entwickeln. Es gibt jedoch noch andere Formen von Außergewöhnlichkeit, z.B. Vorbilder, auf die weiter unten eingegangen wird.

Geformt werden wir in der Kindheit. Deshalb schaut Gardner zuerst dort, ob sich Muster herauskristallisieren. Aus der Betrachtung der Kindheit im Allgemeinen stellt Gardner fest, dass die Entwicklung der Kinder sich sehr stark in ihren jeweiligen Stärken unterscheiden. Manche sind frühreif im Sprachgebrauch, andere sind frühreif in der körperlichen Gewandtheit oder beim Malen.

In der Vergangenheit wurde eine bestimmte Art von Intelligenz gemessen und nach landläufiger Meinung war das ein wichtiges Kriterium, um erfolgreich zu sein. Gardner sagt, dass diese „psychometrische Auffassung von Intelligenz“ veraltet ist, ja sogar diametral den neueren Erkenntnissen aus Biologie, Anthropologie und Psychologie widerspräche. Z.B. ist es unmöglich, genetische Faktoren und Umweltfaktoren auseinanderzuhalten.

Gardner entwickelt eine Theorie vielfacher Intelligenzen. Der Mensch zeichne sich durch acht charakteristische Formen von Intelligenz aus. Intelligenz wird hier definiert „als Fähigkeit, Probleme zu lösen oder Produkte zu erzeugen, denen in einem kulturellen Umfeld oder einer Gemeinschaft Wert beigemessen wird.“

Gardners Liste von Intelligenzen:

  • Sprachliche und logische Intelligenz (die, für die es in der Schule gute Noten gibt)
  • Räumliche Intelligenz
  • Musikalische Intelligenz
  • Körperliche und kinästhetische Intelligenz
  • Personale Intelligenz in Bezug auf das Verständnis für andere Personen
  • Personale Intelligenz in Bezug auf Selbsterkenntnis
  • Das Erfassen der natürlichen Welt

Gardner beschreibt Frühreife und Wunderkinder, die z.B. lernwütig selbst vor der Schule lesen lernen, stundenlang Schach spielen oder geigen. Sie haben dann auf einem bestimmten Gebiet eine außerordentlich hohe Begabung. Ein Talent kann sich ohne Förderung jedoch nicht entfalten.

Wunderkinder bekommen ab dem Erwachsenenalter die Midlife-Krisis, da sie sich nun in nichts mehr von Erwachsenen unterscheiden, die durch Anstrengung und Übung vergleichbare Leistungen erreichten. Entweder sie überstehen das und machen darin weiter oder wenden sich Dingen zu, in denen sie nicht talentiert sind. Doch auch wenn sie weiter machen, „wird nicht aus jedem Wunderkind ein Star“. Ganz selten wird aus einem Wunderkind auch ein „kreativer Mensch höchster Ordnung“. Dieser Mensch gelangt von der Nachahmung hin zur Eigenständigkeit – er kehrt den Vorbildern den Rücken zu.

Gardner zieht drei Lehren aus den Untersuchungen, die uns dienlich sein könnten.

Außergewöhnlich kreative Menschen

  • reflektieren ihre Erfahrungen sehr viel
  • haben die Fähigkeit ihre Stärken zu erkennen und auszunutzen. Sie können Abweichung von anderen zum Vorteil nutzen
  • scheitern häufig und verwandeln die Niederlagen in Chancen

Das reflektieren eigener Erfahrungen ist besonders bei Selbstbeobachtern Thema. Die größten Dramen spielen sich nach Woolf nur im Kopf ab.

Beeinflusser, also Führungspersönlichkeiten, müssen nach Gardner sprachbegabt sein oder diese Stärke entwickeln. Sie benötigen die Fähigkeit sich grundlegenden Lebensfragen zu stellen, was Gardner als „existenzielle Intelligenz“ bezeichnet, und sie benötigen die personale Intelligenz im Umgang mit anderen Menschen. Einer hoher „IQ“ sei keine Hilfe. Studien belegen, dass Führerpersönlichkeiten mit viel Charisma meist wenig von ökonomischen Fragen verstehen. Auffallend für Beeinflusser „ist die Bereitschaft, schon in jungen Jahren Autoritäten herauszufordern und Risiken einzugehen“, um Ziele zu erreichen.

Alle Führerpersönlichkeiten, die Gardner untersucht hat, erlebten jede Menge Niederlagen. Z.B. waren Stalin und Hitler im Alter von 30 völlig bedeutungslose Menschen. Der Gedanke, dass sie in Kürze Weltgeschichte bestimmen würden, wäre zu dem Zeitpunkt lächerlich erschienen. Gandhis erfolgreichen Aktionen „standen mindestens ebenso viele nichterfolgreiche Aktionen gegenüber“. Aber alle gingen mit ihren Niederlagen so um, dass sie daraus neue Kraft schöpften. Henry Ford sagte, dass eine Niederlage eine Gelegenheit sei, noch einmal auf intelligentere Weise zu beginnen. Ähnliche Aussprüche waren in Reden und Schriften jedes Beeinflussers, mit denen sich Gardner befasst hatte.

Als eine weitere Form von Außergewöhnlichkeit, die Gardner in keine der vier genannten einordnen konnte, ist die „spirituelle Außergewöhnlichkeit“. Hier ist allein die Präsenz der Person für andere eine lebensverändernde Erfahrung. Beispiele sind Gandhi, Martin Luther King, Mutter Theresa, Janis Joplin. Diese Gaben finden wir natürlich auch im negativen, z.B. bei Sektenführern. Alle diese Menschen kennzeichnet ihre beeindruckende physische Erscheinung, ihre hypnotische Wirkung und sie strahlen Charme und Energie aus.

Außerdem definiert Gardner noch eine „moralische Außergewöhnlichkeit“. Das sind  Menschen, die selbstlos anderen helfen. Oft sind das Menschen, die früh Verluste erlitten. Sie werden durch den Schmerz motiviert, eine bessere Welt zu schaffen.

Oft werden aus Schwächen (Gebrechen, Leiden, Verluste) Stärken. Hierbei werden die „Asynchronizitäten des Einzelnen“, d.h. die unterschiedlichen Veranlagungen, optimal ausgenutzt.

Was wir von den Außergewöhnlichen lernen können.

Gardner stellt als erstes die Frage, ob das überhaupt wünschenswert ist. Denn es habe den Preis, dass man ungeheures Engagement beweisen müsse, mind. 10 Jahre des selbständigen Fleißes, um eine Domäne zu meistern. Man habe die ständige Gefahr von Schmerz, Ablehnung und Vereinsamung. Die Würdigung bleibt aus. Es braucht ein dickes Fell, denn es gibt Neider und Kritiker. Richtung Lebensende treibe einem der Druck dazu, sich nur auf das Schaffen zu konzentrieren, alles andere bleibt außen vor. Wer da nicht mitmacht, wird verstoßen. Alle Personen, die Gardner untersucht hatte, waren schwierige Persönlichkeiten, oft unglücklich, hatten Selbstmordgedanken und hatten sich entfremdet. Viele sind wahrscheinlich erst im Ergebnis ihrer vielen negativen Erfahrungen schwierig und verschroben geworden.

Wenn trotzdem Außergewöhnlichkeit erreichen will:

Gardner misstraut Programmen, die Kreativität oder Führungsqualitäten fördern wollen, vorzugsweise in Wochenendseminaren. Er schreibt, man könne die Elemente nicht in wenigen Tagen trainieren.

Ein Umfeld, das einen darin bestärkt, seine Fähigkeiten und sein Wissen zu verbessen, ist förderlich.

Kinder sollten von frühauf mit Vorbildern in Berührung kommen, die auch unter großen Schwierigkeiten ihr Ziel weiterverfolgen.

Gardner schreibt  „Eltern oder Lehrer können Kindern dabei helfen, mit unvermeidlichen Enttäuschungen und Rückschlägen fertig zu werden“.

Wenn man nach Einfluss strebt, kann man die Fähigkeiten überall lernen, wirkungsvoll Geschichten erzählen zu können und seine eigene Geschichte authentisch zu vermitteln. Ein Image-Berater bringe nichts, weil die eigene Persönlichkeit degradiert wird.

Wichtig sei auch die Fähigkeit, Autoritäten herauszufordern ohne dabei selbst vollständig abgelehnt zu werden. Die Kritik sollte gut begründet sein und die Herausforderung aus „einer gesunden Mischung von Selbstvertrauen und Demut vorgetragen werden“. Man sollte kleinere Gelegenheiten wahrnehmen, dies zu üben.

Gardner hat die drei Elemente: Reflektieren, Stärken ausspielen, Erfahrung sinnvoll bewältigen als Schlüsselelemente aller von ihm untersuchten herausragenden Persönlichkeiten herausgearbeitet:

  • Reflektieren:  „Die regelmäßige bewusste Betrachtung der Ereignisse des täglichen Lebens im Licht längerfristiger Wünsche“.
  • Stärken ausspielen: Entscheidend ist das Ausmaß, in dem es gelingt, die Ungewöhnlichkeit der eigenen Stärken zu erkennen und zu nutzen
  • Erfahrung sinnvoll bewältigen: Das bedeutet, dass man Erfahrungen so verarbeitet, dass man für sich eine Lehre draus zieht.

Nach Gardner kommt es auf die Menge der Erfahrungen an. Kreative Menschen würden viel mehr Erfahrungen sammeln und systematischer in der Bewältigung vorgehen. Sie haben es sich quasi zu einer Lebensgewohnheit gemacht. Wichtig seien der konstruktive Umgang mit Kritik und das positive Betrachten aller auch noch so negativen Erfahrungen.

Den meisten von uns würden solche Meisterleistungen jedoch nicht gelingen. Das sei eine logische Notwendigkeit, weil die Kreativen ein Publikum brauchen, was sie bewundert. Gardner schreibt, dass jeder Experte auf einem Gebiet werden und hochqualitative Arbeiten abliefern kann. Man sollte versuchen vorauszuahnen, in welche Richtung sich die eigene Domäne entwickeln wird. Jeder sollte immer höher hinaus zielen und nach dem Motto des Kaizen leben.

Gardner schreibt selbst, dass diese wenigen Hinweise „kaum überraschend“ sind.

Gardner spricht von einem epochalen Dilemma: „Wenn wir es zulassen, dass sich Neuerung und Beeinflussung anderer ohne Rücksicht auf die Konsequenzen frei entfalten, laufen wir große Gefahr, dass unsere Welt (durch eine neue Waffe) zerstört oder (durch ein missglücktes genetisches Experiment) unbewohnbar wird. Wenn wir andererseits […] harte Maßnahmen ergreifen, um eine solche freie Entfaltung zu unterbinden, geben wir eben jene Freiheit preis, für die so viele Menschen guten Willens jahrhundertelang gekämpft haben“

Gardner  propagiert daher eine „humane Kreativität, in denen sich die eigene Intelligenz und das freie Nutzen eigener Ressourcen mit der Verantwortung verbinden, diese gut und human einzusetzen“. Es nütze nichts Moralbücher zu schreiben oder Ethikkurse zu verordnen, denn die Menschen brauchen lebende Vorbilder humaner Kreativität

Meine eigene Ansichten zur Außergewöhnlichkeit

Als einen wichtigen Punkt hervorheben möchte ich, wie abhängig die Leistung eines Menschen davon ist, ob dem, was er tut, auch Bedeutung beigemessen wird. Gardner deutet dies an, in dem er schreibt, dass das Erreichen von Außergewöhnlichkeit stark vom Umfeld abhängig ist. Ich würde dem noch einen drauf setzen. Allein das Umfeld und die Gesellschaft in der wir leben entscheiden, ob das, was wir tun als von Wert empfunden wird. Und somit definiert sich Außergewöhnlichkeit im positiven wie im negativen alleine dadurch, was in der Gesellschaft als normal, im Sinne von gewöhnlich betrachtet und was als herausragend anerkannt wird.

Gardner hatte eine Liste von acht Intelligenzen festgestellt. Ich frage mich, ob diese Liste wirklich erschöpfend ist. Ich sehe z.B. weitere folgende Intelligenzen:

  • Charisma-Intelligenz – als die Fähigkeit andere mitzureißen (Charisma)
  • Global-Intelligenz – als die Fähigkeit Weltzusammenhänge zu erkennen
  • Entscheidungs-Intelligenz – als die Fähigkeit gute Entscheidungen zu treffen und zu handeln (Führungsqualitäten)
  • Gesellschafts-Intelligenz – als Gespür für den aktuellen Zeitgeist

Ob das nun alles Intelligenzen sind, oder eher Fähigkeiten oder Charakterzüge, die hilfreich sind, um erfolgreich zu sein, sei mal dahingestellt. Ganz offenbar lässt sich hierbei keine klare Abgrenzung finden, wann etwas eine Form von „Intelligenz“ ist und wann „nur“ eine Fähigkeit. Nach Gardners  Definition von Intelligenz müssten alle weiteren von mir in der Liste genannten Fähigkeiten und einige mehr, z.B. die Fähigkeit durchzuhalten (sich von nichts unterkriegen zu lassen) und Geduld, ebenso dazugehören.

Gardners Trennung in vier Arten von Außergewöhnlichkeit wirkt auf mich stark gekünstelt, zumal er am Ende dann doch noch zwei weitere Arten von Außergewöhnlichkeit definiert (spirituelle und moralische). Diese Schubladen dienten dazu, herauszufinden, worin Außergewöhnlichkeit bestehen kann. Nun wurde aber festgestellt, dass es sowieso immer alle drei Komponenten braucht und außerdem das Umfeld ganz wesentlich ist. Also reicht es, von Aspekten zu sprechen, die alle mehr oder weniger erfüllt sein sollten.

Ich kann mich außerdem mit der Selbstbeobachtung als eigene Form der Kreativität nicht anfreunden. Schon die Aussagen, die Gardner von Virginia Woolf zitiert, überzeugen mich in keiner Weise. [St1] Was da das Besondere ist, konnte mir Gardner nicht vermitteln. Ich befasse mich täglich auch mit Selbstbeobachtung. Manche sagen mir, ich würde sinnlos grübeln. Ich kann das natürlich auch als große Fähigkeit zur Reflexion betrachten. Das ist offenbar alles eine Frage der Sichtweise. Es stellt sich doch die Frage, ob denn Ergebnisse beim Grübeln (oder eben der Selbstreflexion) herauskommen, oder sich alles im Kreise dreht? Ich komme durch das Nachdenken oft zu neuen Erkenntnissen und manchmal ergeben sich dadurch auch neue Handlungen. Ich sehe dieses Reflektieren als nichts besonderes, muss aber immer wieder erschüttert feststellen, wie wenig andere Menschen über sich selbst reflektieren.

Vermutlich würde mir ein Lesen von Woolfs Romanen gar nichts geben, weil sie langatmig schwafelnd und in unendlichen Kommasätzen schreibt (laut einiger Buchrezensionen) und ich das nicht als sonderlich erhellend empfinden würde. Für andere ist genau dies von großem Wert und einer Außergewöhnlichkeit, womit wir wieder bei der Tatsache angekommen sind, dass allein das Umfeld entscheidet, ob etwas außergewöhnlich ist oder nicht. Ganz profan können wir das mittlerweile in diesen Supertalente-Shows wiederfinden. Wenn das Publikum die Darbietung ablehnt, wird sie eben derzeit von diesem Publikum nicht als außergewöhnlich empfunden, egal wie schwierig die Handlungen des Darstellers auch sein mögen.

Die größten Dramen spielen sich nach Woolf nur im Kopf ab. Ich sehe das sehr konträr! Ich sage, im Handeln zeigt der Mensch seine wahre Stärke. Nur durch Handeln kommt man immer wieder zu völlig neuen Selbsterkenntnissen und muss seine eigenen Einsichten auch manchmal wieder vollständig über Bord werfen. Wieder kann das aktuelle Zeitgeschehen mit einer populären Sendung als Beispiel herhalten: So umstritten das Dschungel-Camp auch sein mag, aber es gibt immer wieder Promis in so einer Show, die dabei zu völlig neuen Einsichten ihrer Selbst kommen.

Ich denke, die richtige Mischung aus Erfahrungen im Handeln sammeln und Selbstreflexion dieser ist ein wichtiges Erfolgskriterium.

Gardner schreibt, man könne so etwas wie Charisma und Überzeugungsfähigkeit nicht in wenigen Tagen trainieren. Meiner Meinung nach, kann ein Wochenendseminar, das genau so etwas verspricht, nicht seriös sein. Was ein seriöses Wochenendseminar aber bieten kann, ist das Zutrauen in die Entwicklung solcher Fähigkeiten zu fördern. Es bietet die ersten Anfänge im Üben, Feedback von anderen und Tipps und Tricks und Handwerkzeugs, eine Steigerung der eigenen Wahrnehmung. So braucht man aufgrund des Inputs dieses Wochenendseminars möglicherweise nicht mehr fünf Jahre, sondern nur noch zwei, um ein charismatischer Redner oder Führer zu  werden.

Gardners drei herausgearbeitete Elemente sind aus meiner Sicht nichts wirklich Neues, das gibt er aber auch selbst zu. Man kann diese Tipps auch in nahezu jedem Erfolgsratgeber lesen. Außerdem frage ich mich, ob man nicht automatisch Lehren aus seinen Erfahrungen zieht? Oder machen Menschen immer wieder dieselben Fehler? Am ehesten empfinde ich noch das Reflektieren als sinnvollen Tipp, da dies wohl nicht jeder tut. Ich wurde gerade gefragt, was reflektieren denn eigentlich bedeutet? Dieses Wort scheint mir neuerdings höchst überstrapaziert. Es heißt nichts anderes als Nachdenken. Also ein Nachdenken über sich selbst – seine Worte, seine Handlungen, die Ergebnisse der Handlungen, also die Erfahrungen,  sein Weltbild – diese bewusst zu machen, zu hinterfragen und zu vergleichen.

Gardner schreibt, dass „den meisten von uns solche Meisterleistungen nicht gelingen werden“ und begründet dies durch logische Notwendigkeit, weil die Kreativen das Publikum brauchen, was sie bewundert. Dieser Einschränkung möchte ich widersprechen – was wäre denn, wenn plötzlich alle Menschen auf einem viel höheren Niveau kreativ sind, weil sie von Anfang in ihrer Entwicklung viel mehr gefördert und ermuntert werden? Dann ist das, was früher herausragend war, heute normal. Und ist es nicht längst so? Haben wir heute nicht viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten als damals? Und wenn es viel mehr kreative Menschen gibt, ist nicht mehr die Leistung von wenigen besonders hervorzuheben, sondern es teilen sich mehr  Menschen den Kuchen der Berühmtheit. Man bleibt vielleicht nur lokal bekannt, ist nichts mehr so besonderes mehr, wird dadurch aber auch weniger zum Außenseiter. Mir scheint, dass heutzutage viel mehr Talente gefördert werden und sich verwirklichen können. Es kommt viel häufiger vor, dass bestimmte Sänger, Künstler Bands in manchen Gruppen von Menschen bekannter sind, als in anderen.

Oder haben wir ein Abflachen ins Seichte, weil jeder Hans und Kunz seine mit Mausklicks produzierte Musik als herausragend ausgeben kann? Ist Berühmtheit heute nur noch eine Frage darüber, wer sich am besten verkaufen kann?

Es gibt auch eine Verschiebung. Herausragende Handwerker, die Meisterleistungen vollbringen, wird es heute weniger geben, weil die Arbeit nicht mehr so häufig verlangt wird. Dafür gibt es als neue Domäne z.B. herausragende Programmierer. Durch die heutige Vielfalt bleiben aber auch die wenigsten ihrer Domäne auf ewig treu, es gibt so viele verlockende andere Möglichkeiten. Wird es daher weniger wirklich brillante Meisterleistungen geben und dafür mehr Arbeiten, die zwar auf hohem Niveau sind, jedoch nicht an Ausnahmetalente herankommen? Und wäre das nachteilig? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort habe, die aber auch keine Antwort benötigen. Es bleibt mir nur, uns allen möglichst viel Kreativität in unserem Schaffen zu wünschen.